Purpose – Unsinn mit Sinn

Seit ein paar Jahren kommt keine Diskussion zu Führung oder Organisationsentwicklung in den einschlägigen Medien ohne des Beraters neue Kleider aus: Purpose.  Es ist das Banner unter dem alle New-Work-Evangelisten, agile Adepten und Firmendemokratisierer die Arbeitswelt wirklich wirklich menschlicher machen werden.
Leider trivialisiert der Purpose-Hype einen prinzipiell hilfreichen Wertehorizont der Organisationsentwicklung, weil es in sehr vielen Diskussion an drei Dingen fehlt: Ziel, Klarheit und Evidenz. Die Diskussion ist sehr oft desorientiert, weil mit kaum belastbaren Definitionen an bestenfalls nebligen Aspekten der Organisation „argumentiert“ wird. Was ist mit Purpose genau gemeint? Ein Hinweis auf Viktor Frankls Sinn des Lebens reicht und los geht’s? Die Diskussion ist verwirrt und verwirrend, weil die beschreibende und funktionale Einbettung von Purpose unklar bleibt. Wie soll man Purpose tatsächlich entwickeln? Wieviel davon ist schon da in Teams, Abteilungen oder der ganzen Firma und was fehlt eigentlich? Was sollte warum realisiert werden? Die meisten Diskussionen und Beiträge zum Thema sind mindestens spekulativ, weil sich behauptete Vorbedingungen und Effekte von Purpose in der wissenschaftlichen Literatur nicht nachweisen lassen oder aber beforschte Effekte und ihre Ergebnisse nicht eingeordnet werden. Schauen wir in die sehr kurze historische Entwicklung des Begriffs und seine jüngsten Ausformungen…

Um zunächst zu zeigen, wie nackt die Purpose-Prediger sind: Der Begriff wurde aus Forschungsarbeiten von Carol Ryff (1989, 1995) entlehnt, die sich vor und in den 1990er Jahren mit dem mittlerweile leidlich umstrittenen Begriff des psychologischen Wohlbefindens (Wellbeing) auseinandersetzte und eine Skala zu dessen Messung einführte mit den Facetten:

Selbstakzeptanz, positive Beziehung zu anderen, Autonomie, gelingender Umgang mit der Umwelt, Lebenszweck (Purpose of Life) und persönliches Wachstum (personal growth).

Auch wenn damals selten der Begriff mindset fiel, wird die geneigte Leserin hier mindestens zwei aktuelle Trends erkennen, die mit ganz anderen Bestsellerautor*innen verbunden sind. Leider nennen sie diese Quelle ihrer Entdeckungen nicht. Ryff schrieb 1989 zur Bedeutung des Begriffs Purpose in Life: Psychische Gesundheit schließt Überzeugungen ein, die einem das Gefühl geben, dass das Leben einen Sinn und eine Bedeutung hat. Die Definition von Reife betont auch ein klares Verständnis des Lebenszwecks, ein Gefühl von Zielgerichtetheit und Intentionalität. Entwicklungstheorien der Lebensspanne beziehen sich auf eine Vielzahl von sich verändernden Zwecken oder Zielen im Leben, wie z. B. produktiv und kreativ zu sein oder emotionale Integration im späteren Leben zu erreichen. Jemand, der positiv funktioniert, hat also Ziele, Absichten und ein Gefühl der Zielgerichtetheit, die alle zu dem Gefühl beitragen, dass das Leben sinnvoll ist.  Im Original: “ Mental health is denned to include beliefs that give one the feeling there is purpose in and meaning to life. The definition of maturity also emphasizes a clear comprehension of life’s purpose, a sense of directedness, and intentionality The life span developmental theories refer to a variety of changing purposes or goals in life, such as being productive and creative or achieving emotional integration in later life. Thus, one who functions positively has goals, intentions, and a sense of direction, all of which contribute to the feeling that life is meaningful. (S. 1071)“.

 

Der nächste Bitte

Die heimliche Mutter (Carol Ryff) dieser Herleitung von Purpose wurde jedoch medial weitgehend „ersetzt“ durch die Existenzanalyse von Viktor Frankl  (ohne wirklichen funktionalen oder deskriptiven Bezug zum Thema). In der Organisationspsychologie und bei evidenzbasiert arbeitenden Beratern war eine Studie aus 2008 des mittlerweile populären Bestsellerautors Adam M. Grant zentral: Sie untersuchte den Effekt von sozialer Bedeutung für Arbeitsaufgaben. Und zwar mit der Zielvariable Arbeitsleistung (job performance): Fundraising-Anrufer einer Universität, deren Spendendaufrufvorgabe mit einer positiven Bedeutung für Dritte aufgeladen wurde, steigerten ihre Arbeitsleistung im Vergleich zu Anrufern mit einer positiven Bedeutung für die eigene Person der Anrufer bzw. ohne besondere Bedeutung und im Vergleich zu ihren eigenen früheren Leistungen. Also ein wirklich gutes Forschungsdesign: experimentell und als Längsschnittuntersuchung. Grant (2008) legt den Schluss nahe, dass “ die bloße Exposition gegenüber Hinweisen auf die Bedeutung der Aufgabe die Arbeitsleistung verbessern kann, indem ein tieferes Verständnis für die sozialen Auswirkungen und den sozialen Wert der eigenen Arbeit gefördert wird (S. 121)“. Der Kern der aktuellen Scharade rund um Meaning und Purpose liegt also in: Leistungsteigerungen. Das ist exakt das Gegenteil von Frithjof Bergmanns Ideen zu New Work, aber sehr nahe am sehr rationalen Effizienzgedanken der agilen Welt (lean management). Und auch der Schluss von Grant scheint die gesamte Literatur um psychologisches Wohlbefinden in einem zentralen Aspekt auszublenden. Gutes zu tun, erhöht das eigene Wohlbefinden (Steger et al., 2007). Hier treffen sich die beiden Ausrichtungen von Purpose, was leider bisher auch in Reviews nicht gewürdigt wurden. Das mag am Fokus auf Leistung liegen, der zwar magnetisch für Magazine mit hohem IF ist, aber eben die Perspektive des Untersuchungsgegenstands außer acht läßt. Kein seltenes Phänomen in diesem Kontext.

Und nun zu etwas komplett Anderem: Purpose als Werthaltung in einer Organisation


Rosso et al. ordneten 2008 den Begriff Purpose als zweidimensionales Konstrukt in ihre große Übersicht zu Meaning of Work ein: Purpose kann dann individuell (wie bei Ryff) aufgefasst werden als veränderlicher Bedeutungshorizont im eigenen Leben oder in Bezug auf eine Organisation oder Gruppe und damit als sozial geteilte Wertvorstellung. Und hier tritt Roy Baumeister auf, der schon durch das mittlerweile widerlegte Konstrukt ego-depletion (Selbsterschöpfung) auch außerhalb der Psychologie bekannt wurde. Seine Arbeiten bilden die Grundlage für Purpose als Thema der Organisationsentwicklung (OE) in Form eines geteilten Wertesystems, das den/die Einzelne stabilisieren soll: Denn wenn man in Übereinstimmung mit einer Gruppe agiert – und dann auch noch während der Arbeit – hat man das Gefühl das Richtige getan zu haben (Baumeister & Vohs, 2002). Aber hier wird klar, dass es kein Thema der Personalentwicklung, der persönlichen Entwicklung oder mindestens der individuellen Dynamik mehr ist. Denn hier riechen Berater neue Aufgaben in der Organisationsentwicklung. Gerade historisch überkommene Psychotherapieverfahren wie Transaktionsanalyse die in OE fröhliche Urstände feiert oder die Organisationstypenlehre nach Frederic Laloux (Reinventing Organizations), die ganz ohne empirische Begründung auskommen muss, erlaubt bei diesem Thema das Generieren neuer Berateraufträge. Ausgerechnet ein renommierter Forscher wie Van Knippenberg (2020) liefert ihnen den Stoff, der träumen lässt: Er differenziert zwischen Vision (Zukunft) und Purpose (Gegenwart) einer Organisation. Purpose ist also verwirklichte Vision. Unternehmenspurpose wird definiert als das Verständnis dafür, was der grundlegende und sinngebende Zweck einer Organisation sei. Dieser Zweck soll gegenwartsbezogen und tunlichst vorhanden sein. Und wenn jede Organisation einen Zweck verfolgen soll, muss jede Organisation das mal analysieren (lassen) und möglichst neu festlegen mit eben diesen Organisationsentwicklungsberatern. Das Gute daran: bei Firmen die changemüde sind, werden solche Wolkenkuckucksheime nur ein müdes Lächeln bei Mitarbeitenden erzeugen. Denn jeder hat mal einen Visionsprozess erlebt und erinnert sich daran, wieviel davon real umgesetzt wurde.

Die Kinder und Kindeskinder von Ryff und Grant

Ab hier kocht jeder Forscher und jede Forscherin einen eigenen Brei rund um Purpose. Die einen fokussieren die Soziale-Identitätstheorie aus der Feder von Tajfel und Turner und hantieren mit sozialen Identitätsprozessen rund um Eigen- und Fremdgruppe (Maitlis & Christianson, 2014): Ganz im Sinne von Baumeister und Vohs sehen sie stabilsierende und identitätsstiftende Prozesse mit Purpose im Gang, die in unsicheren oder mehrdeutigen Situationen Orientierung liefern sollen. Van Knippenberg (2020) sieht eine zentrale Rolle in der Führung, die sich dadurch legitimiert, dass sie die abstrakte Welt des Purpose im Arbeitsalltag konkretisiert. Nicht ohne Ironie führt er in diesem Kontext den alten Kampfbegriff der Community Psychology an: Empowerment, der ehemals Emanzipationsprozesse marginalisierter Gruppen beschreibt, die oft mit politischem Aktivismus gesellschaftliche Raumforderung realisierten (AIDS-Bewegung, LGBTIQ+, BLM, Frauenrechte und Indigene in Südamerika etc), nicht selten mit partizipativer Aktionsforschung der Psychologen begleitet. Empowerment ist ein sogenanntes Mehrebenenkonstrukt, das individuelle, organisationale (gruppenbezogene) und umweltbezogene Definition erfahren muss, da es erst in der Interaktion dieser drei Ebenen wirkt (Gerschick et al, 1990). Im Kern besagt Empowerment, dass Menschen (gemeinsam) Fähigkeiten entwickeln und verbessern, ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht von anderen Gruppen oder Erwartungen der Umwelt gestalten zu lassen. Das ist das exakte Gegenteil der oben beschriebenen verordneten Werthaltungen einer Organisation, die top-down erarbeitet wird. Es ist aber auch bei einem demokratischen Bottom-Up-Prozess mit Partizipation der Belegschaft beim Erarbeiten der Werte keineswegs anders: Denn in der Konsequenz sind die Führungskräfte Referenz für die konkrete Auslegung dieser Werte. Empowerment trägt aber ein besonderes Wort im Inneren, das an Ryff erinnert: Power. Alle Prozesse rund um Empowerment haben als Ergebnis die Aufhebung von Ohnmacht und ein erwachtes oder gestärktes Selbstbewusstsein als Folge für die Betroffenen. Nicht selten ist eine Umverteilung von Macht in der Organisation der eigentliche Empowermentprozess. Dieses Heraustreten aus Machtlosigkeit und Ohnmacht ist aber gar nicht intendiert im Begriff des Purpose, weder der individuellen Variante von Ryff noch der organisationalen von Grant oder Baumeister: Denn es geht entweder um neue Entwürfe für das Individuum oder um den sozialen Nutzen für Dritte, Unbeteiligte – oft vulnerable Gruppen.

Da verwundert es nicht, dass jemand mit der digitalen Kommunikation um die Ecke kommt, und deren Potenzial für eine neue Nähe und soziale Wärme im digitalen Arbeitsfeld postuliert. Damit ist Purpose dann zum Vehikel für Arbeitsgestaltung im dritten Jahrtausend umdeklariert (Wang, 2020). Mit all den Unwägbarkeiten, die die digitale Arbeistwelt für Individuen und Oragnisationen so mit sich bringt (Marsh et al, 2021). Aber das ist ein anderes Kapitel über sinnvolle und sinnlose Beratungsmandate und Hypethemen.

 

Quellen:

Baumeister, R. F., & Vohs, K. D. (2002). The pursuit of meaningfulness in life. In C. R. Snyder & S. J. Lopez (Eds.), Handbook of positive psychology (608–618). Oxford University Press.

Gerschick, T., Israel, B., & Checkoway, B. (1990). Means of Empowerment in Individuals, Organizations, and Communities: Report on a Retrieval Conference. Program in Conflict Management Alternatives: CRSO Working Paper, 424. University of Michigan.

Grant, A. M. (2008). The significance of task significance: Job performance effects, relational mechanisms, and boundary conditions. Journal of Applied Psychology, 93(1), 108–124. https://doi.org/10.1037/0021-9010.93.1.108

Maitlis, S., & Christianson, M. (2014). Sensemaking in organizations: taking stock and moving forward. Academy of Management Annals, 8(1), 57–125. https://doi.org/10.5465/19416520.2014.873177

Marsh, E., Perez, E. & Spence, A. (2021). The digital workplace and its dark side: An integrative review. Computers in Human Behavior. 128. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0747563221004416

Rosso, B.D., Dekas, K., & Wrzesniewski, A. (2010). On the meaning of work: A theoretical integration and review. Research in Organizational Behavior, 30, 91-127. https://doi.org/10.1016/j.riob.2010.09.001 

Ryff, C. D. (1989). Happiness is everything, or is it? Explorations on the meaning of psychological well-being. Journal of Personality and Social Psychology, 57(6), 1069–1081. https://doi.org/10.1037/0022-3514.57.6.1069

Ryff, C. D., & Keyes, C. L. M. (1995). The structure of psychological well-being revisited. Journal of Personality and Social Psychology, 69(4), 719–727. https://doi.org/10.1037/0022-3514.69.4.719

Steger, M. F., Kashdan, T. B., & Oishi, S. (2008). Being good by doing good: Daily eudaimonic activity and well-being. Journal of Research in Personality, 42(1), 22–42. https://doi.org/10.1016/j.jrp.2007.03.004

Wang, B., Liu, Y., & Parker, S. K. (2020). How does the use of information communication technology affect individuals? A work design perspective. Academy of Management Annals, 14(2), 695–725. https://doi.org/10.5465/annals.2018.0127