Personalmangel ist in aller Munde, nur leider nicht im Kopf. Der Mangel an Wissen begründet die Abwesenheit von zielführenden Handlungen, um gegenzusteuern. Man kann das gut an den orientierungslosen Versuchen erkennen, Pflegekräfte oder Ärzte in der öffentlichen Gesundheitsversorgung zu halten oder Erzieher:innen für Kitas zu gewinnen. Es erinnert an komplexe Würfelspiele mit faszinierten, aber unerfahrenen Spielern. Gegen die Unwissenheit hilft eine aktuelle weltweite Befragung zur Mitarbeiterzufriedenheit (Employee Experience Trends 2023). Von 30.000 Befragten gaben 57% an, mit der Vergütung und den Zusatzleistungen zufrieden zu sein (im Vergleich zum Vorjahr waren das 10% weniger!). Doch einige Faktoren sind viel entscheidender und vor allem deuten sie auf klare Verhaltensänderungen auf der Unternehmensführungsebene hin. Denn die Wirksamkeit von Merkmalen der Führungskräfte und Purposediskussionen wurde bisher deutlich überschätzt.
Vergleicht man Mitarbeitende und Führungskräfte, werden die Probleme von Organisationen offensichtlich: Beim Abgleich zwischen Erwartungen an den Arbeitgeber und der Firmenrealität liegen Mitarbeitende 35% hinter ihren Führungskräften, beim Wohlbefinden sind es noch 22%. Doch wissen wir aus der psychologischen Forschung, dass nicht der Gehaltsunterschied entscheidend ist, sondern der Handlungsspielraum (Autonomie). Führungskräfte ohne Bewegungsfreiheit (siehe auch: kontrollierte Autonomie) empfinden auch bei deutlich höherem Gehalt nicht mehr Wohlbefinden als Untergebene. Und auch die „Wertehitliste“, die in der Organisationspsychologie seit 20 Jahren geklärt ist, wird in dieser Umfrage eindeutig bestätigt: Der wichtigste Wert ist Fairness! Das gilt für das Gehalt und die Sozialleistungen wie auch für das Einhalten von persönlichen Grenzen der Mitarbeitenden OHNE die Erwartung, monatlich Überstunden anzuhäufen (wer hier flexible Zeitmodelle winken sieht, hat offenbar schon die organisationale Schmuddelecke verlassen).
Zum Glück steigt aktuell der sinnvolle Einsatz von generativer KI wie GPT, BARD oder anderen Sprachmodellen, die Routinearbeiten im Büro drastisch senken und viel Last in bestimmten Verwaltungsbereichen reduzieren können, wie Vorhersagen von OpenAI, der University of Pennsylvania und Goldman Sachs Ende März 2023 berechnet hatten. Wer KI klug einsetzt kann so trotz Personalmangel, das Bruttoinlandsprodukt deutlich steigern. Bei einigen Arbeitsaktivitäten deutlich über 50%. Einige Tätigkeiten werden große Veränderungen durch generative Sprachmodelle erfahren:
a) Durch Produktivitätssteigerung werden Berufe betroffen sein, die häufige und sich wiederholende Routineaufgaben beinhalten, die Sprache und/oder Textdokumente erfordern, wie zum Beispiel Sachbearbeiter in Verwaltungen, Übersetzer, einfache Programmieraufgaben, Recherche/Journalisten und Texter. (Was letztlich den Personaleinsatz reduzieren wird.)
b) Durch Rationalisierung werden aber auch ganze Berufe betroffen sein, die sich auf sprach- oder skriptbasierte Arbeit konzentrieren, wie zum Beispiel Call-Center-Mitarbeiter und Reiseleiter oder App-/Webdesigner, wahrscheinlich auch Illustratoren und Werbetexter. Generative KI-Sprachmodelle können viele Aufgaben in diesen Feldern automatisieren oder Laien direkt zugänglich machen, was zu einem Rückgang der Arbeitsplätze führen kann.
Im Moment bleibt ein wesentlicher Faktor für mangelnde Zufriedenheit eine erhöhte Workload durch unnötige Zusatzarbeit, die weder die Wertschöpfung selbst erhöht noch die Teamleistung oder den Informationsaustausch verbessert. So ist erklärbar, warum die Absicht in der Firma zu bleiben, von 2021 (70%) auf nunmehr 63% gesunken ist. Die Tendenz rast weiter auf die Hälfte zu. Zum Glück bleibt das Engagement der Belegschaft weiterhin als einziger Faktor stabil bei rund 66%. Maßnahmen für mehr Engagement und den Willen zu bleiben, sind die Überzeugung, innerhalb der Firma Karriere machen zu können (Wachstumsperspektive) und das tägliche Erleben von Werten der Integrität (wie etwa Fairness, gerechte Behandlung, Transparenz etc.). Was kann eine Organisation tun, Mitarbeitende zu binden und um deren Zufriedenheit und Engagement zu erhöhen?
Diagnose 1: Vergütung und Sozialleistungen
Arbeitnehmende, die mit ihrer Vergütung und ihren Sozialleistungen zufrieden sind, haben eine um 26 % höhere Überzeugung, dass ihre Erwartungen an den Arbeitgeber übertroffen werden, und eine um 13 % höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie mehr als drei Jahre bei ihrem derzeitigen Arbeitgeber bleiben werden. Aktuell glauben weniger Beschäftigte (39%), dass sie fair bezahlt werden, und der überwältigende Eindruck ist, dass die Unternehmen sich kaum Mühe geben, solche Grundlagen ernst zu nehmen und richtig umzusetzen. Nur 57% der Beschäftigten weltweit glauben, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen ihrer Leistung und der Bezahlung gibt. Die wahrgenommene Fairness in diesem zentralen Punkt ist also deutlich unterdurchschnittlich. Es kann auch an mangelnder Transparenz oder Ehrlichkeit liegen.
Was hilft: Angemessene Vergütungen und Belohnungen für Leistungen der Mitarbeiter; Vergütungssysteme, die nicht hinter dem Markt zurückbleiben; Vergünstigungen für Mitarbeiter, die den realen Lebenshaltungskosten entsprechen
Diagnose 2: Grenzen anerkennen!
Die Mitarbeitenden haben in den letzten Jahren deutlich über Niveau der Jahre davor gearbeitet, viel wurden oder haben sich selbst überfordert. Jetzt fordern sie das Einhalten von Grenzen zurück. Dazu gehört die Einschätzung, dass Überstunden NUR in Ausnahmen anfallen sollen, dass die Work-Life-Balance nur für wenige Tage oder Wochen überstrapaziert werden sollte. Wer sich schon mal gefragt hat wie quite quitting oder nur noch das Notwendige tun begründet ist, findet hier die Antwort. 63% der Befragten mit ausgeglichener Work-Life-Balance sind zu hohen Leistungen bereit und fähig, bei einer unausgeglichenen Work-Life-Balance sind es nur noch 23%. Hier macht sich der oben angesprochene Mediator (vermittelnder Faktor) Handlungsspielraum bzw. Autonomie besonders stark bemerkbar, sodass Führungskräfte in diesem Feld eher die Nase vorn haben.
Was hilft: Flexible Arbeitszeitmodelle; Effizienz beim Messen und gerechten Verteilen der Arbeitslast
Diagnose 3: Schlechte Prozesse, ineffiziente Strukturen und Systeme erhöhen das Risiko des Ausbrennens von Mitarbeitern
Die Erwartungen an Mitarbeitende in Zeiten der Krisen sind gewachsen. Gleichzeitig müssen sie diesen höheren Output oft mit geringeren Ressourcen stemmen: weniger Personal, weniger Zeit und weniger Material oder Vorprodukte. Dazu kommen ständig neue Technologien oder Software, die die Prozesse verlangsamt, verkompliziert und behindert, sodass viele Mitarbeitende um die Software oder System drumherum arbeiten müssen, was unnötige Mehrarbeit bedeutet, die Führungskräfte weder verstehen noch dulden. Es wächst die Gefahr psychischer Probleme am Arbeitsplatz rasant an. Während sich die Geschäftsleitung mit den Kosten einer SAP-Einführung überhebt, bleiben Kernprozesse in Unwägbarkeiten stecken. Eine Zeit lang können erfahrene Kollegen noch Ausweichprozesse abteilungs- oder teamübergreifend etablieren. Irgendwann ist eine/r zentrale Person in einem informellen, abteilungsübergreifenden Netzwerk krank und das Kartenhaus bricht zusammen. Mit noch mehr Pech faselt gerade die mittlere Führungsebene von new work oder Agilität, dann gibt es nicht nur externe Veränderungszwänge sondern auch interne. Und das Schiff bekommt im Sturm Schlagseite durch ein Umverteilen der Ladung auf hoher See. Die Ursache von Problemen und Schäden wird mangels praktischer Kenntnisse dem mangelnden Willen den eigentlichen Leistungsträger oder einem Sündenbock (HR?) zugeschrieben. Die Problemlagen akkumulieren Schaden auf verschiedenen Ebenen, so wird Übersicht verhindert, indem Komplexität geschaffen wird: Die Folge ist nicht selten Burnout in den untersten Ebenen sowie Fluktuation und schwere Erkrankungen weiter oben in der Organisation. Weil vor allem dort offen zutage tritt, dass weder Transparenz noch Fairness leitende Werte beim Umgang mit Fehlern sind. Viele Teams oder ganze Firmen entwickeln in solchen Umbruchphasen ganz eigene Sündenbockkulturen, die lange Schatten werfen…
Was hilft: Zuhören lernen; Flexible Leistungsmessungen etablieren; Offene und kooperative Fehlerkultur aufbauen
Diagnose 4: Arbeit zu haben bedeutet nicht nur, einen Job zu haben – es ist ein zentraler Bestandteil des Wertesystems von Menschen
Und fangen Sie jetzt nicht mit Purpose an! Die letzten Jahre haben den Arbeitnehmenden die Möglichkeit gegeben, ihre individuelle Sicht auf die Rolle der Arbeit in ihrem (familiären) Leben und ihre Auswirkungen auf die Menschen, die Gemeinschaften und die Welt um sie herum zu überdenken (siehe The Great Reset von Klaus Schwab vom Weltwirtschaftsform in Davos). Hier trennt sich nun die Spreu vom Weizen in Sachen Organisationskultur. Die Art und Weise, wie Werte im Alltag gelebt und umgesetzt werden, machen den Unterschied zwischen „bleiben wollen“ und „bleiben können“ deutlich. Selbst wenn beispielsweise die Werte der Mitarbeiter und des Unternehmens übereinstimmen, – und die Mitarbeiter bleiben wollen – kann es sein, dass sie das Unternehmen verlassen, weil sie es sich nicht leisten können, zu bleiben: wenn die Vergütung nicht ihren Erwartungen oder Leistungen entspricht. Da hilft ein Regenwaldprojekt oder ein einsames Projekt-Inselchen mit design thinking gar nichts. Die Befragung zeigt, dass dieser Realitätsabgleich den größten Einfluss bei den teuersten Mitarbeitenden hat. Leider hat die größte Gruppe der Mitarbeitenden im Vergleich zu Führungskräften den geringsten Glauben an eine Übereinstimmung der Firmenwerte mit der täglich gelebten Kultur. Das zeigt einerseits die Abgehobenheit vieler Führungskräfte in vielen Firmen vom Tagesgeschäft, andererseits offenbart sie den mangelnden Informationsfluss von unten nach oben. Konkret bedeutet diese vor allem, dass Wachstum und Veränderung aufseiten der Belegschaft ihre Karrieremöglichkeiten und Weiterbildung meint, aufseiten der Führungskräfte ferne Welten wie Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung gegenüber der Dritten Welt, die gern vollmundig mit Partnerschaften mit NGOs etc. öffentlich gefeiert wird, während die Belegschaft mit Hunderttausenden Überstunden leise zu Boden sinkt.
Was hilft: Beförderungsentscheidungen auf der Grundlage der Leistung der Mitarbeiter und nicht nach Betriebszugehörigkeit; Förderung von Minderheiten auf der Führungsebene; Karrierewege für engagierte Menschen, die in die für die Zukunft erforderlichen Rollen/Kompetenzfelder aufsteigen; Mehr Möglichkeiten für Berufseinsteiger, ihre Fähigkeiten zu entwickeln; Sichtbarkeit der Integrität einer Organisation und deren Umsetzung im Firmenalltag für die Belegschaft
Quelle: Qualtrics Employee Experience Trend Report 2023