BGM: Individuelle Maßnahmen für psychisches Wohlbefinden und gegen Stress am Arbeitsplatz eher nicht wirksam

Menschen im BüroLange hat es gedauert, bis Firmenlenker eingesehen haben, dass Fehlzeiten wegen Stress, Überforderung, Mobbing und anderer psychischer Belastungen am Arbeitsplatz besonders kostspielig sind. Noch länger hat es gedauert bis Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden. Viele glauben noch heute, dass Druck und Angst ein wirksame Mittel dagegen sind. Aber auch die Gegenseite muss sich nunmehr mit der Komplexität der Realität eingehender befassen: Jetzt wird klar, dass es wenig bringt, den/die einzelnen Arbeitnehmenden mit Stressmanagement, Achtsamkeit, Massagen und Resilienzprogrammen vollzustopfen – und zwar aufseiten der Mitarbeitenden und für die Organisation. Denn wer entstresst und vollkommen gegenwärtig den cholerischen Chef, die mangelnde Personaldecke oder die Arbeitsüberlastung fünf Tage die Woche erleben darf, wird in den seltensten Fällen gesund bleiben – auch mit diesen Maßnahmen. Die Organisationsebene sollte der eigentliche Dreh- und Angelpunkt eher organisationaler/struktureller Verbesserungen sein, wie eine Auswertung des Wellbeing Research Centre aus Oxford über 46.000 Teilnehmende nahe legt, die im Januar 2024 publiziert wurde. Individualmaßnahmen zeigen bei den wesentlichen Zielvariablen im Arbeitskontext wenig bis keine Auswirkungen – bis auf ehrenamtliche Aufgaben.

Das wird sicher ein Schock für Hunderte Verantwortliche für betriebliches Gesundheitsmanagement werden, aber ist aus Sicht seriöser aktueller Forschung zur psychischen Gefährdungsbeurteilung eher ein alter Hut. Anders als alle bisher bekannten gerühmten Maßnahmen wie Stressmanagement und Resilienztrainings zeigte eigentlich nur ehrenamtliche Arbeit  im Vergleich zu vielen Intervention und über die wesentlichen Zielvariablen wie Wohlbefinden, Arbeitszufriedenheit, Engagement, wahrgenommene psychische Gesundheit, Stresswahrnehmung, Stressunterstützung, Teamzusammenarbeit hinweg eher positive Effekte. Bei den üblichen Verdächtigen wie Achtsamkeitsinterventionen, Resilienztrainings, Stressmanagement, (Finanz-)Coaching, Wellbeing/Schlaf-Apps, Entspannungsübungen (z.B. PME/AT/Yoga) oder Zeitmanagement waren die Ergebnisse bei den 46.000 Briten und Britinnen mindestens durchwachsen, sodass eher kein Effekt oder sogar negative Auswirkungen auf die obengenannten Zielkriterien berichtet wurden. Besonders eindrücklich sind die Ergebnisse bei den Kernfaktoren Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden: bei ersterem punkten nur Coaching und Ehrenamt und bei letzterem Zeitmanagement, Online-Coaching und Schlaf-Apps.

Um den Autor der Studie, William Fleming, zu zitieren: „Die Ergebnisse zeigen, dass diejenigen, die an Maßnahmen auf individueller Ebene teilnehmen, das gleiche Maß an psychischem Wohlbefinden haben wie diejenigen, die nicht teilnehmen. Die große multiorganisatorische [branchenübergreifende] Stichprobe zeigt, dass dies über mehrere organisatorische Kontexte hinweg konsistent ist. Letzten Endes lässt sich aus dieser Analyse nicht die Hypothese ableiten, wonach sich diese Maßnahmen positiv auf das subjektive Wohlbefinden der Arbeitnehmer auswirken […] Auch wenn diese Ergebnisse positive Effekte für einzelne Arbeitnehmer nicht völlig ausschließen, kann ein solcher Effekt durch einen negativen Effekt an anderer Stelle aufgewogen werden. […] Diese primären Ergebnisse stehen im Gegensatz zu einem Großteil der bestehenden Darstellung in der empirischen Literatur und im politischen Diskurs (Bartlett et al., 2019; van der Klink et al., 2001; NICE, 2022; Robertson et al., 2015; Richardson & Rothstein, 2008; siehe Literaturverzeichnis bei Fleming). Der Grund warum eher organisationale Faktoren Stress verursachen ist außerhalb von korrelativen Forschungsdesign zu finden. Eine Stanford-Forschendengruppe um Professor Pfeffer nennt die 10 wichtigsten Stressquellen darunter Schichtarbeit, lange Arbeitszeiten, Arbeitsplatzunsicherheit, Konflikte zwischen Arbeit und Leben, geringe Arbeitsplatzkontrolle, hohe Arbeitsanforderungen und mangelnde Unterstützung. Jährlich sterben in den USA an diesen Ursachen rund 120.000 Menschen. Es ist daher leicht erkennbar, dass weder Achtsamkeit noch Resilienztrainings einen nachhaltigen Einfluss haben können. Solche Seminare erscheinen zunehmend als Feigenblatt für eine fahrlässige Unternehmensführung mit der viele Berater, Psychologen und Forschende ein auskömmliches Leben finanzieren. Entgegen der Evidenzlage. Denn eine Forschergruppe um Kevin Teoh untersuchte für das Gesundheitssystem die Lage: Zu den wirksamsten Maßnahmen zur Verbesserung des Wohlbefindens am Arbeitsplatz gehörten dort der Abbau unnötiger bürokratischer Verfahren, die Verkürzung von Sitzungen, die Verbesserung der Dienstpläne und die Vermittlung eines Gefühls der psychologischen Sicherheit im Team. Man kann leicht erkennen, der hohe Krankenstand und die vielen Langzeiterkrankten und Toten durch Stress am Arbeitsplatz sind nicht mit Seminaren aus der Welt der positiven Psychologie oder Esoterik aus der Welt zu schaffen oder zu verbessern, auch nicht mit Schulungen der Führungskräfte. Das Problem ist die Unternehmensführung und nicht die Personalführung oder gar der/die Einzelne!

Die Gründe im Detail (nach :

1. An Symptomen herumdoktern: Viele Programme konzentrieren sich vor allem auf die Ergebnisse größerer organisatorischer Probleme , anstatt deren Ursachen zu behandeln (z. B. übermäßige Arbeitsbelastung, Zeitdruck, rigide Arbeitszeiten, schlechte Firmen-/Führungskultur usw.). Achtsamkeit, Meditation oder Stressmanagement können niemandem keine bessere Kontrolle über die eigene Arbeitsbelastung geben. Wellness-Apps können eine toxische Kulturen nicht erträglicher machen. Man kann sich nicht einfach durch Atmen oder Meditation aus einem von ineffektiven oder toxischen Führungskräften kontrollierten Stressumfeld befreien. Ohne die eigentlichen Ursachen zu ändern, sind einzelne Maßnahmen nur Pflaster auf klaffenden Wunden.

2. Fehlende Daten/keine Messungen/unehrliche Befragungen: Interventionen scheitern, weil Unternehmen sie umsetzen, ohne die spezifischen Faktoren zu verstehen, die zum Wohlbefinden der Mitarbeiter in ihrem jeweiligen Umfeld beitragen bzw. dieses beeinträchtigen oder gar Probleme erst entstehen lassen. Ohne den Einsatz von Vorhersagemodellen und empirischen Daten ist es schwierig, die wirksamsten Faktoren zu identifizieren und wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Es gibt aber auch Firmen, wo klar ist, dass niemand in den Befragungen die Wahrheit sagt/schreibt – und zwar aus verschiedenen Gründen.

3. Fördern ungesunder Schuldzuweisung. Der Fokus auf das Thema Wohlbefinden in Organisationen verschiebt den Fokus der Diskussion und damit die Last des Problems von der Organisation auf die Mitarbeiter. Wenn die Individuen sich gestresst, ängstlich oder ausgebrannt fühlen, heißt das, dass es Ihr Problem ist – vielleicht sind Sie nicht belastbar genug oder können sich nicht gut genug selbst verwalten. Die glorreiche Aufgabe des „guten“ Unternehmens besteht nun darin, die Mitarbeiter durch kostspielige Maßnahmen zu „reparieren“, anstatt die Arbeitsbedingungen und betrieblichen Praktiken zu verbessern, und sich so von der Verantwortung freizusprechen. Wenn es nicht klappt, hat die Firmenleitung alles richtig gemacht, nur die Mitarbeitenden scheinen nicht richtig zu funktionieren, trotz der guten Maßnahmen wie etwa Wellbeing-Seminare von international anerkannten Spitzentrainern oder Bestellerautorinnen 😉

4. Einsatz von Maßnahmen, die den Realitätstest nicht bestehen. Seminare und Workshops am Arbeitsplatz, die in klinischen oder akademischen Einrichtungen entwickelt und validiert wurden, sind in der Regel klein und werden streng überwacht, so dass sich die Vorteile nicht auf reale Kontexte übertragen lassen. Zumal die Wirkung in Kliniken nicht selten darauf beruhen, dass die Probanden für Wochen aus dem Alltagstrott raustreten in eine ruhige Umgebung. Sobald diese „evidenzbasierten Programme“ in realen Arbeitsumgebungen zum Einsatz kommen, verschwinden die positiven Auswirkungen meistens sang- und klanglos oder wirken nur für kurze Zeit.

5. Schlechtes Design der einzelnen Maßnahmen. Viele Interventionen – auch von Fachleuten aus dem akademische Umfeld – sind auf Basis theoretischer Modelle aus dem eigenen Fachbereich mehr oder weniger sinnvoll für die Praxis konzipiert, ignorieren oft jedoch grundlegende Modelle zur Verhaltensänderung. Sie vernachlässigen den Blick auf die Entstehung, als validierte Diagnosemodelle oder konzentrieren sich auf die Ergebnisse des Problems und nicht auf die Ursachen/Moderatoren und wählen unbewiesene Aktivitäten aus, intuitiv oder aufgrund einer einzelnen Studie sinnvoll erscheinen. Im schlimmsten Fall wird die Maßnahme genau so in jeder Firma und bei ähnlichen Problemlagen gleichermaßen umgesetzt ohne Blick auf die Bedürfnisse oder gar eine Bedarfsanalyse. In vielen Fällen sind sie schlecht auf die Person, die Aktivität, die Situation/Organisation und die eigentlich relevanten Zielvariablen abgestimmt. Einige wenden völlig ungeeignete didaktische Methoden an, werden nicht lange genug durchgeführt/unterstützt, damit sich die Wirkung entfalten kann. Fast allein gemeinsam ist das globale Problem, dass wichtige kulturelle und kontextuelle Faktoren auch auf der organisationalen oder strukturellen Ebene vernachlässigen, die die Wirksamkeit beeinflussen.

6. Interventionen sind fast immer Ereignisse und kein Prozess. Wohlbefinden und (psychische) Gesundheit Mitarbeitender sind ein kontinuierliche Prozesse, keine einmalige Zielgröße. Ohne nachhaltige Bemühungen der Organisation und Führungskräfte, Maßnahmen nachhaltig in die Unternehmenskultur zu integrieren, werden alle potenziellen positiven Auswirkungen im besten Fall von kurzer Dauer sein.

 

Fazit: Man kann die Aufgabe des psychischen Wohlbefindens nicht ernsthaft an die Mitarbeitenden delegieren ohne die organisationalen Kontexte zu überprüfen und zu verbessern: dazu gehören strukturelle Aufgaben wie die Arbeitsorganisation in Bezug auf Arbeitszeiten, Workload, Kooperation und Leitungsaufgaben. Aber auch das Klima, die Führung, Kooperation, Fairness, Gerechtigkeit, Handlungsspielräume spielen eine essentielle Rolle. Nicht zuletzt der Glaube, mit Angst, Druck, Informationsentzug und Drangsalieren Kosten zu reduzieren bzw. die Produktivität zu erhöhen führt direkt in exorbitante Fehlzeiten und Kündigungswellen. Wer angesichts der dünnen Personaldecke noch immer glaubt, diesen Weg einschlagen zu können, weil draußen Tausende auf dieselbe Position warten, sollte das Handy und den Firmenwagen abgeben und zukünftig nur noch analog via Rauchzeichen und Steintafeln an der gemeinsamen Arbeit teilnehmen, denn dieses Verhalten aus dem letzten Jahrtausend kostet Milliarden – jährlich.

Quellen:

Bagnall A.-M., Jones R., Akter H., & Woodall J. (2016) Interventions to prevent burnout in high risk individuals: evidence review, Public Health England.

De Simone S., Vargas M., & Servillo G. (2021) Organizational strategies to reduce physician burnout: a systematic review and meta-analysis, Aging Clinical and
Experimental Research, 33 (4), 883–894. https://doi.org/10.1007/s40520-019-01368-3

Goh, J., Pfeffer, J., & Zenios, S. (2015). The Relationship Between Workplace Stressors and Mortality and Health Costs in the United States. Management Science. 62.

Fleming, W. (2024) Employee wellbeing outcomes from individuallevel mental health interventions: Cross-sectional evidence from the UK, Industrial Relations Journal.

Teoh, K., Dhensa-Kahlon, R., Christensen, M., Frost, F., Hatton, E.,Nielsen, K. (2023) Organisational wellbeing interventions: case studies from the NHS. Technical Report. Birkbeck, University of London.