Stress – ein Weg das biopsychosoziale Modell des Menschen besser zu verstehen

Quelle: DALL-E, CC BY 4.0

Bisher arbeiten viele Disziplinen noch getrennt bei der Beschreibung und Erklärung der Lebenswelt von uns Menschen. Das ist besonders schade, wenn es darum geht, die seelischen Verletzungen und die Milliardenschäden durch (chronischen) Stress einzudämmen. Die bisher vorherrschenden Modelle von Stress und Gesundheit beginnen in der Regel mit einem stressigen Ereignis (Reiz), das einen Anfang und ein Ende hat, sodass bestenfalls eine Erholungsphase folgen kann. In vielen Modellen wird Stress vom Gehirn wahrgenommen, bewertet und löst Gefühle von Enge, Bedrängnis und negativen Emotionen aus. Diese wiederum begründen körperliche Stressreaktionen. Als gezielte Handlung wird dann die am besten geeignet scheinende Verhaltensweise gewählt, um sich an den Stressor anzupassen, zum Beispiel indem man ihn abschwächt, eliminiert oder irgendwie modifiziert. Forschende versuchen, die unterschiedliche Literatur über akuten Stress und affektive Zustände wie Emotionen und Motivation zu harmonisieren, um besser zu verstehen, wie affektive Zustände unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden beeinflussen. Der wahrgenommene Stress beim Menschen unterscheidet sich jedoch von der übergeordneten Kategorie des Affekts, obwohl der negative Affekt eine wichtige Rolle bei der Konzeptualisierung und Messung des wahrgenommenen Stresses spielt. Die Überschneidung dieser psychologischen, biologischen und medizinischen Konstrukte ist so weit verbreitet, dass das Axiom in der akademischen Welt – Stress wird an medizinischen Fakultäten studiert, Emotionen an psychologischen Fakultäten – die Ähnlichkeiten betont und gleichzeitig die unterschiedlichen Ziele und Ansätze zur Untersuchung dieser affektiven Zustände hervorhebt. Es wird Zeit, auf der Grundlage des biopsychosozialen Modells neue Wege in der Beschreibung und Messung des Phänomens Stress zu gehen, in dem biografische, situationale, biologische, soziale und Aspekte der Dauer erhoben und bewertet werden…

Das oben beschriebene eher lineare Modell von Stress erscheint leicht verständlich und gut einsetzbar in der Praxis. Seine Vorhersage- und Erklärungskraft kommt fast völlig zum Erliegen, wenn es um einschneidende oder chronische Formen von Stressauslösern (Stressoren) geht: Armut, Demütigung, Tod eines Kindes oder anhaltende Gewalterfahrung. Denn es gibt dort weder umgehend funktionierende Adaptionsmöglichkeiten noch Erholungsstrategien. So gesehen fehlt dem weit verbreiteten Stressmodell, das heutzutage in Medizin oder Psychologie Anwendung findet, das wesentliche Element der Zeit oder Dauer. Es ist nicht nur viel zu linear, es ist zu statisch, um die Lebenswelt abzubilden. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass eine besondere Form von chronischem Stress unter dem neuen Begriff Burn-Out bekannt wurde. Und auch dort sind wie bei negativen Affekten die Schnittmengen zum linearen Stressmodell leicht erkennbar und vielfach beschrieben, aber eben nicht umfassend erklärt.

Wie wir Stress messen

Das individuelle Messen des wahrgenommenen Stresses mit Fragebögen, des Stresshormons Kortisol im Speichel oder die Herzratenvariabilität sind sicher sehr hilfreich, um den aktuellen Status zu erfassen. Sie messen aber nicht die kumulativen Erfahrungen über die Zeit oder ihre/seine sozialen Startbedingungen ins Leben. Daher sind sie keine zuverlässigen Indikatoren für die Vorhersage langfristiger Gesundheitsauswirkungen von Stressauslösern. Ebenso haben spezifische affektive Reaktionen auf einzelne Lebensereignisse oder alltägliche Stressoren oft keine Auswirkungen auf die langfristige Gesundheit. Allerdings könn(t)en diese Reaktionen ein Indikator dafür sein, wie die betreffende Person normalerweise auf Stressoren reagiert, und somit einen Einblick in die individuellen Reaktionsmuster einer Person geben. Wenn man ein Modell nutzt, das all diese Faktoren integrieren kann. Denn in der Tat können affektive Reaktionen auf bestimmte Situationen von großem Wert sein, wenn es darum geht, die charakteristische Anfälligkeit einer Person für die schädlichen Auswirkungen von Stressoren auf die Gesundheit einzuschätzen. Aber keinesfalls kann man damit erkennen, ob jemand aufgrund von familiären oder sozioökonomischen Ursachen im Vergleich zu Angehörigen anderer sozialer Schichten per se mehr oder stärkeren Stressoren ausgesetzt ist. Das Messen von Stress muss daher sowohl biologische, psychologische als auch soziale Kennwerte der Person erfassen. Ein Anfang wird aktuell in der Forschung gemacht, indem man täglichen Stress (Termindruck) von chronischem Stress (Armut) und kumulativem Stress (Armut plus Einsamkeit plus chronische Erkrankung) unterscheidet. Man beginnt seither zu verstehen, dass ein anhaltendes oder gar chronisches Stresslevel sowohl die Wahrnehmung als auch die Fähigkeit des Umgangs mit täglichen Stressoren beeinflusst. Intuitiv ist längst klar, dass der biografische Hintergrund die Wirkung von Stressauslösern im Alltag mildern oder verstärken kann. Nur wurde das bisher nicht in den Messungen der Psychologen oder Mediziner praktisch umgesetzt und abgebildet.

Wie wir Stress (selbst) wahrnehmen

Eine zweite Dimension des Problems wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass Menschen, die über ihren eigenen Stress berichten, darin gar nicht abbilden können, dass sie schon immer arm sind oder seit Geburt mit einer chronische Erkrankung umgehen müssen. Wenn sie also über ihren Stress Auskunft geben, ist der Abstand zur reichen oder gesunden Bevölkerung darin gar nicht abgebildet, da sie gar nicht über einen Vergleich im Selbstbericht verfügen. Oft kommt hinzu, dass jemand anhand des indivuellen Kortisollevels offensichtlich als gestresst eingeschätzt wird von Experten, jedoch laut ausgefülltem Fragebogen gerade eine stresslose Zeit erlebt.  Der fehlende Zusammenhang zwischen persönlichen Stressbewertungen und physiologischen Indikatoren für Stresserregung ist wahrscheinlich auf viele Faktoren zurückzuführen: Zum Einen werden Ereignisse nicht ausschließlich durch bewusste Wahrnehmung erlebt, wie in grundlegenden Stressmodellen angenommen wird. Aber emotionale Reaktionen werden auch durch soziale Prozesse konstruiert. Wenn die gesellschaftlich erwünschte Geschlechtsrolle erfordert, das jemand stark ist und Leiden schweigend erträgt, wird die innere (vor allem tägliche) Verletzung entweder aktiv heruntergeregelt oder gar nicht erst ernst genommen, um den Funktionsstatus aufrecht zu erhalten. Der Körper jedoch weiß nichts von gesellschaftlich erwünschten und unerwünschten Stressoren. Außerdem gibt es auch kulturelle Gründe, wo und wie man Probleme in der Alltagsbewältigung erlebt: als seelische, körperliche oder soziale Erscheinung.

Neuere Forschung zeigt uns auch, dass das Vorhandensein von Stressoren unterschiedliche Auswirkungen haben kann – je nach der neurobiologischen Veranlagung einer Person, anfällig für Stress zu sein. Eine hohe Anfälligkeit ist nicht nur mit einem Risiko verbunden, sondern auch mit der vorteilhaften Reaktion eines unterstützenden, sozialen Umfelds (Familie, Partner, Kollegen). Die Wechselwirkung zwischen dem biologischen und historisch-biografischen Kontext einer Person und den akuten Stressreaktionen ist von zentraler Bedeutung, um herauszufinden, wie sich die Exposition gegenüber Stressoren auf die langfristige Gesundheit auswirken. Aber eben auch auf die Wahrnehmung selbst. Vor allem chronischer und traumatischer Stress hat biologische Auswirkungen auf das Gehirn selbst und damit auf das Erkennen und Bewerten von Reizen. Aber es gibt auch grundsätzliche körperliche Folgen: Kinder, die in der Kindheit vernachlässigt und/oder misshandelt wurden oder im Mutterleib bereits starken Stress erlebten, werden bereits auf körperlicher Ebene eine andere Entwicklung vollziehen als Kinder, die diesen starken Reizen nicht ausgesetzt waren. (biological embedding of childhood adversity).

Fazit: Der Kontext von Stress umfasst individuelle und Umweltfaktoren, die persönliche Geschichte der Belastung (insbesondere Stress in der Kindheit, aber auch kumulativer Lebensstress), aktuelle chronische Stressoren und vorhandene Schutzfaktoren. Die Untersuchung der Auswirkungen einer einzelnen Stressor-Exposition ohne Messung der Kontextfaktoren, in denen eine Person den Stressor erlebt, beschränkt die Vorhersage- und die Erklärfähigkeit von medizinischen und psychologischen Stressmodellen: Der historisch-biografische Kontext beeinflusst die gewohnheitsmäßigen Reaktionen auf Stress, die letztlich darüber entscheiden, ob er kumulative Auswirkungen hat und zu allostatischer Belastung und frühen Erkrankungen beiträgt. Als allostatische Last werden Überbeanspruchungs- und Abnutzungseffekte bezeichnet, die in einem Organismus nach wiederholter oder chronischer Exposition gegenüber Stress auftreten. Herkömmliche Reiz-Reaktions-Modelle sind nützlich, um einzelne Komponenten des Stressprozesses zu erkennen und zu untersuchen. Aber in der Regel sind sie linear und beschränken sich auf Messungen der bewussten expliziten Erinnerung und/oder des aktuellen Zustands. Um die Gesundheitsforschung voranzubringen, müssen wir den Kontext zusammen mit der Exposition gegenüber Stressoren und den Stressreaktionen untersuchen und beschreiben und dabei (sowohl analytisch als auch theoretisch) die wechselwirkenden und vielstufigen Prozesse berücksichtigen, die Stress mit Gesundheit verbinden. Eine angepasste moderne Stresstypologie sollte als Leitfaden für Entscheidungen und Beschreibungen von Stressmaßnahmen verwendet werden. Wichtig wäre, dass diese Typologie eine Liste der psychosozialen Merkmale enthält, die die Exposition gegenüber Stressoren charakterisieren, und die Notwendigkeit hervorhebt, diese zu identifizieren und zu beschreiben (physische Bedrohung durch Gewalt, soziale Statusbedrohung, Demütigungen und oder erzwungene/erwünschte Rollenveränderung/Störungen). Das Identifizieren solcher Merkmale von Stressoren wird zu differenzierteren Erkenntnissen über kurze und langfristige Mechanismen führen, die bestimmte Stressreize in bestimmten Situationen auf die psychologische und physiologische Ebene auslösen können.

Eine bessere Messung der akuten Stressreaktivität (z. B. Bedrohung vs. Herausforderung, Erholung) könnte zu besser angepassten und wirksameren Interventionen führen, die gezielter auf die Stressresilienz und die Förderung gesunder Verhaltensweisen ausgerichtet wären als das aktuell der Fall ist. Die nächste Generation der Stress- und Resilienzforschung wird eine dynamische Systemperspektive einnehmen müssen – eine Perspektive, die die Lebensgeschichte und den Kontext einer Person in die Hypothesen darüber einbezieht, wie Stressor-Expositionen die Gesundheit sowie schützende und schädigende Gesundheitsverhaltensweisen beeinflussen. Wir messen und beforschen aktuell vor allem den täglichen Stress durch ökologische Momentaufnahmen mit Hilfe von Technologien und Fragebögen, um sowohl psychologische und physiologische Reaktionen als auch detaillierte Profile von Stressoren und sozialen/physischen Kontexten zu erhalten. Künftige Forschungen werden mehrere Zoomstufen (biologisch, psychologisch, sozial, organisational) brauchen, mit der Möglichkeit, Stressreaktionen über die Zeit und den sozialen und biografischen Kontext einzuschätzen. Seit 2018 gibt es ein multidisziplinäres Stressmodell, das psychologische. soziale, psychoneuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Dimensionen beschreibt. Erweitert man dies um die Aspekte der Dauer der Stressexposition, könnte der Informationsgewinn hilfreich für das Verständnis sein, wenn Menschen zum Beispiel ausrasten oder in die innere Emigration gehen. So könnten Modelle devianten Verhaltens oder über die Ätiologie von Depression oder Ängsten mehrdimensional ergänzt werden.

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