Marshmallow-Test: Warum einige psychologische Erkenntnisse aus Lehrbüchern und Medien verschwinden (oder umgeschrieben werden) sollten…

Marshmallows als Objekt der Begierde. (Quelle: Jennifer Smith)

Fast jeder kennt die Untersuchungen aus der Vorschule des Stanford Campus von Walter Mischel und Kollegen: In der Urform erklärten die Versuchsleiter den Kindern, dass man für einige Zeit den Raum verlassen würde. Durch Klingeln mit einer Glocke könnten sie die Versuchsleitenden sofort zurückrufen und würden dann einen Marshmallow erhalten. Würden die Kinder aber warten bis die Person von selbst zurückkam, dann bekämen sie zwei Marshmallows. Wenn die Kinder nicht klingelten, kehrten die Wissenschaftler nach 15 Minuten zurück. Die meisten Kinder konnten zwischen 6 und 10 Minuten warten. Auf Basis dieser Forschung wurden in Längsschnittstudien Jahre später mit denselben Probandinnen und Probanden viele Erfolgskriterien geprüft. Denn man glaubte, mit dem Belohnungsaufschub einem Indikator für das psychologische Konstrukt Selbstkontrolle auf der Spur zu sein, das sogar persönlichen und beruflichen Erfolg vorhersagen können sollte. Das Experiment wurde vielfach wiederholt und die Ergebnisse bestätigt. An sich ist das toll, denn viele Studienergebnisse überleben das Wiederholen derselben Forschungsaufgabe (Replikation) nicht. Die Längsschnittstudien mit Marshmallows schienen den starken Einfluss von Selbstkontrolle auf Erfolg sogar kausal zu belegen.  Zwei Drittel des Effekts liegt jedoch nicht in der Selbstkontrolle begründet sondern ganz woanders… im Elternhaus.

Wenn man über 20 Jahre beobachtet, dass besonders viele Kinder geboren werden, wenn die Störche aus dem Süden kommen, dann kann man nicht im 21. Jahr sagen: So, wir haben genug Messzeitpunkte, jetzt kann man kausal belegen, dass Störche einen positiven Einfluss auf Kindergeburten haben. Denn korrelative Forschungsdesigns bleiben korrelative Designs auch nach 20 Messzeitpunkten oder 20 Jahren: Sie belegen einen Zusammenhang aber keine Kausalität. Dieser wichtige Unterschied zwischen Zusammenhang und Ursache wurde im Jahr 2018 offensichtlich, als die Forschergruppe Watts, Duncan und Quan die bekannteste Studie von Shoda, Mischel und Peake (1990) wiederholten. Die Effektstärken waren im Jahr 2018 nur halb so groß wie 1990 und zwei Drittel des Einflusses wurde vermittelt (mediiert) über den sozioökonomischen Status der Kinder.

Noch heute werden die Ergebnisse der Ursprungsstudie und vor allem die der Longitudinalstudien vielfach von anderen Psychologen und Wissenschaftlern ungeprüft zitiert und benutzt, um eigene Forschung zu begründen oder Ergebnisse einzuordnen. Leider werden die Ergebnisse von Watts und Kollegen nicht genannt. Vielleicht weil sie nicht in das Weltbild der Leistungsgesellschaft passen, wo jeder, der sich genug anstrengt, es schaffen kann. Bei der DGPs versteigt man sich sogar dazu, diese Forschung von Mischel und Kollegen als Ernährungsforschung zu etikettieren. Das ist beschämend.

Denn Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern waren in der Lage, länger zu warten als Kinder aus armen Familien. Die Harvard- und Princeton-Forscher Sendhil und Shafir erklärten 2013 in Ihrem Buch „Scarcity -Why Having Too Little Means So Much“ warum arme Menschen sich anders verhalten als Personen aus wohlhabenden Millieus. Arme Kinder konnten die reale Erfahrung von Belohnung nicht erlernen, weil es sie in ihrer Erfahrung kaum oder nicht gab. Wer zögert, dem bleibt nichts mehr übrig von dem wenigen, das vorhanden ist. Kurzfristiges Denken ist für sie eher eine erlernte Lebensnotwendigkeit weil es eine Folge ihrer Lebenswirklichkeit ist.

Aber das Narrativ ist geblieben – bei Pädagogen, Buchautoren, Beratern und neunmalklugen Großeltern: Wenn du dich nicht in Geduld übst (sich selbst kontrollieren) und auf deine Chance (Belohnung) wartest, dann wirst du auch keinen Erfolg haben. Arme Menschen, die sich oft mehr anstrengen müssen aufgrund ihrer schwierigen Startbedingungen, erhalten bei ausbleibendem Erfolg die Nachricht, dass eine besondere persönliche Eigenschaft namens Selbstkontrolle dafür verantwortlich ist, dass sie es nicht schaffen. In Wirklichkeit hatten sie einfach das Pech, keine wohlhabenden Eltern zu haben. So werden Zuschreibungen und Verantwortung aus dem sozialen Raum in das Persönliche verlagert. Kann man nix machen, so bist du eben. Und auf diese Weise können die Verhältnisse weiterhin als unschuldig erscheinen und soziale Gerechtigkeit als sinnfreie Ideologie…

Die Konsequenzen können wir oft in Firmen und Organisationen beobachten. Kinder reicher Eltern machen Karriere, weil sie die bessere Ausbildung haben und oft auch bessere Noten. Schon wenige Jahre nach ihrem Abschluss erscheinen sie bei Problemen und komplexen Situationen nichts mehr vom Erlernten zu wissen oder es nicht anwenden zu können. Menschen aus komplexen Biographien navigieren vorsichtig und tastend aber erfolgreich durch solche Situationen. Denn das ist ihr Vorteil: Sie haben es gelernt mit Unsicherheit und Problemlagen umzugehen. Nur sehen das wenige Vorstände, weil sie solche Leute nicht in Managementpositionen berufen. Wer wenig Ahnung von Führung und Personalwesen hat, stellt oft Leute ein, die ähnlich denen sind, die schon da sind. Diesen Ähnlichkeitsfehler gibt es jetzt sogar zu kaufen mit KI-Lösungen wie HireVue, die Bewerber bewerten auf Basis der Profile von ehemaligen Bewerbern, die schon in der Firma sind. Leute aus gutem Hause stellen Leute aus gutem Hause ein. Unfähige und boshafte Mitarbeitende, die sich über Jahre durchgesetzt haben, werden zur Blaupause für neue Leute. Man versteht sich, ist sich ähnlich. Das passt schon. Bis zur nächsten Krise. Und dann stellt man schnell eine Frau ein, die man nötigenfalls absägen kann. Siehste, Frauenquote bringt ja auch nix…

 

 

 

Mischel, W., Shoda, Y., & Rodriguez, M. L. (1989). Delay of gratification in children. Science, 244(4907), 933–938. https://doi.org/10.1126/science.2658056

Mullainathan, S., & Shafir, E. (2013). Scarcity: Why having too little means so much. Times Books/Henry Holt and Co.

Shoda, Y., Mischel, W., & Peake, P. K. (1990). Predicting adolescent cognitive and self-regulatory competencies from preschool delay of gratification: Identifying diagnostic conditions. Developmental Psychology, 26(6), 978–986. https://doi.org/10.1037/0012-1649.26.6.978

Watts, T. W., Duncan, G. J., & Quan, H. (2018). Revisiting the marshmallow test: A conceptual replication investigating links between early delay of gratification and later outcomes. Psychological Science, 29(7), 1159–1177. https://doi.org/10.1177/0956797618761661

Watts, T. W., & Duncan, G. J. (2020). Controlling, Confounding, and Construct Clarity: Responding to Criticisms of „Revisiting the Marshmallow Test“ by Doebel, Michaelson, and Munakata (2020) and Falk, Kosse, and Pinger (2020). Psychological science, 31(1), 105–108. https://doi.org/10.1177/0956797619893606